Autorinnen-Porträt

Anne Birk im Porträt

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Porträtierung von Anne Birk:

durch die Autorin selbst

durch ihr Pressebüro

durch eine Rede

Porträtierung durch die Autorin selbst

Anne Birk schrieb 1988 über sich:

»Ich bin 1942 in einem alemannischen Bauernhaus geboren. Zum Jahrgang von Stalingrad zu gehören als Tochter eines nationalsozialistischen Organisations-leiters war ebenso prägend für mich wie die Kindheit in einem großen Familien-Clan voll leidenschaftlicher, begabter Erzähler. Das spätere Literaturstudium gestaltete sich so zum spannenden Wiederfinden bereits bekannter Situationen, Figuren und Verwicklungen auf anderen Ebenen. Aus dem Wiederfinden kristallisierte sich allmählich das Selbererfinden heraus.«

Anne Birk im Lesebuch Schreibende Frauen

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Porträtierung durch ihr Pressebüro

Schreiben mit kritischem Blick auf die menschlichen Verhältnisse

Die Esslinger Autorin Anne Birk spiegelt politische und gesellschaftliche Entwicklungen an ihrer Familiengeschichte

»Schreiben bedeutet für Anne Birk, sich einen Freiraum zu nehmen, aber auch, sich im Spiegel individueller Erfahrungen mit menschlichen Grundsituationen auseinander zu setzen. Die Esslinger Autorin wurde 1942 in Trossingen geboren. Immer wieder greift sie in ihren Kurzgeschichten, Erzählungen und Romanen auf die eigene Familiengeschichte zurück, an der sie politische und gesellschaftliche Entwicklungen und Verwicklungen deutlich macht. In ihrem Roman ‚Carlos oder Vorgesehene Verheerungen in unseren blühenden Provinzen‘ wird dagegen eine Aufführung von Schillers ‚Don Carlos‘ zum Auslöser für das Nachdenken über persönliche Erfahrungen.« (Pressebüro Rapp-Hirrlinger)

Im Interview mit Ulrike Rapp-Hirrlinger schildert Anne Birk, warum ihr der kritische Blick auf die menschlichen Verhältnisse so wichtig ist, und wie sich dies in ihren Werken niederschlägt.

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Aufschlussreiches Rede-Porträt

Im Rahmen einer Jubiläums-Festveranstaltung ihres Geburtsortes Trossingen hielt Anne Birk nachstehende Rede, die in mehrerlei Hinsicht aufschlussreich ist: über ihren Herkunftsort Trossingen, über sich als Schriftstellerin, und insbesondere darüber, wie beides untrennbar miteinander verknüpft ist und wie ihre in dieser Gegend verwurzelte Vita Einfluss darauf hatte, was und wie sie schrieb:

»Meine Damen und Herren,
liebe Trossingerinnen und Trossinger,

Danzig, Lübeck und Berlin sind wohlbekannte Orte der deutschen Literatur. Und jetzt also Trossingen. Wieso gerade Trossingen, werden Sie, die Sie hier leben, fragen. Was gibt es hier Literaturwürdiges? Das müßte Ihnen doch auch schon aufgefallen sein!

Damit aus alltäglichen Erfahrungen und Geschichten Literatur wird, brauchen Autoren Nähe zu ihrem Stoff und zugleich Distanz, um ihn literarisch gestalten zu können.

Trossingen hat mir diese gute Mischung in idealer Weise geboten. Geboren in einem alten Bauernhaus, habe ich die ersten drei Jahre meines Lebens hier verbracht. Der Umzug nach Tuttlingen Ende des Krieges brachte den Abstand. Der Kontakt zur Trossinger Großfamilie blieb aber äußerst intensiv und prägend.

Jedes zweite Wochenende verbrachte ich mit meinen Eltern im Haus meines Onkels, der eigentlich in Stuttgart wohnte, in Trossingen aber ein Haus gebaut hatte eigens zu dem Zweck, dort alle zwei Wochen die Großfamilie, Freunde und Bekannte zu versammeln und mit Kuchen und Bohnenkaffee zu traktieren. Er war ein Sammler. Ein Sammler von Geschichten. In der Großstadt erzählt kein Mensch Geschichten, man kennt sich ja sozusagen nicht.

Aber in Trossingen kam jeder, der samstags kam, mit einer Geschichte. Es gab verschiedene Geschichten. Liebesgeschichten, tragische und komische, keinesfalls jugendfrei. In einer Zeit, in der man zum anständigen Mädchen erzogen wurde, ohne die geringste Ahnung zu haben, was es denn mit dem Nichtanständigen, geschweige denn dem Unanständigen für eine Bewandtnis habe, hatten derartige Geschichten einen unmittelbar aufklärerischen Wert, schon allein aufgrund der Örtlichkeiten, an denen sie spielten: Abgelegene Heuschober, Hintertüren von Tanzsälen, abgelegene Holz- und Futterkammern, maiengrünes, nicht ganz dichtes Fliedergebüsch, Gartenlauben von Fabrikantenvillen, Wäschekammern usw. waren die bevorzugten Orte der Handlung.

Die Liebesgeschichten machten aber den kleineren Teil der samstäglichen Unterhaltung aus. Es überwogen die Gute-Zeiten-schlechte-Zeiten-Geschichten. Letztere hatten oft mit dem Krieg zu tun. Auffallend war, daß man sich vorwiegend auf den ersten Weltkrieg beschränkte. Den Hungerwinter, die schrecklichen Briefe von der Front, wie die Frauen die Nähstube organisierten, wie der Großvater lange in Tuttlingen auf den Zug aus Ulm wartete, um sich von seinem ältesten Sohn zu verabschieden, der an die französische Front mußte. Wie er nach stundenlangem Warten in der Kälte erfuhr, daß dieser Zug schon lange durchgefahren sei. Wie er tagelang nichts redete und dann behauptete, er werde den Karl nie wieder sehen. Und wie dann die Mitteilung kam, daß er gefallen sei. Kopfschuß. Er stand im Schützengraben und war doch schon tot. Ja. So war das. Und dann mußte die Mutter erzählen, wie sie ihn in seinem letzten Urlaub vom Bahnhof abgeholt hatte und wie statt ihres Lieblingsbruders ein wildfremder Mensch mit Bart und seltsam verlorenem Blick ausgestiegen war. Ein Mensch, der nur noch schweigend herumsaß und sich nicht mehr aufs Schiffeschnitzen und Dammbauen am Bach verstand. Sie stiegen aus ihren verschnörkelten Rahmen im Schlafzimmer und standen in ihren Uniformen und Pickelhauben in der Stube in ihren Geschichten herum. Sie hatten sehr junge, fast kindliche Gesichter neben ihren kaffeetrinkenden Brüdern, durch deren Haar sich mehr und mehr graue Strähnen zogen.

Die Villa-Geschichten gehörten zu den Gute-Zeiten- und Wir-sind-wieder-wer-Geschichten. Sie waren nicht unumstritten in der Runde, weshalb man nicht allzu oft auf sie zurückkam. Manche fanden es nämlich nicht in Ordnung, daß der Herr Fabrikant schon wieder Hans oben im Land war und als einer der ersten Kredite vom Land Württemberg bekommen hatte, wo der so ein Nazibonze und im Wirtschaftskreis von Himmler gewesen sei. Die anderen fanden, da könne man mal sehen, daß diese Demokratie von Amerikas Gnaden auch solche Leute brauche. Und hinlangen könne der und bei ihm gäbe es ein Stück. Und schon habe er wieder viele in Arbeit und Brot gebracht und plane eine neue Fabrik. Und eine neue Turnhalle gäbe es demnächst auch, das sei für die ganze Gemeinde gut, das solle man bitte schön nicht vergessen. Und ohne eine saftige Spende aus der Villa wäre der Bau verschoben worden bis zum Sankt Nimmerleinstag. Viele in der Runde nickten, auch wenn der Vetter Leies sagte, das würden die, die er hinter Schloß und Riegel oder gar ins KZ gebracht hätte, aber sicher anders sehen. Da hörte das Nicken auf und man beschwieg einen solchen Satz ganz einfach. Bis schließlich einer sagte, na ja, so schlecht sei damals ja auch nicht alles gewesen, und eine Anekdote vom Gauturnfest anno ’34 zum Besten gab, bei der der Haller Heiner eine tragende Heldenrolle gegen den Gausportwart spielte und sich mit seinen Mannen an die Spitze gebracht und jedenfalls gegen die Spaichinger und Schwenninger durchgesetzt habe.

Die Villa-Geschichten gehörten zu den Koffergeschichten. Als ich noch klein war, bildete sich bei den Geschichten, an die man nicht rühren wollte, die man nicht erzählen wollte und die man dann doch erzählte, in meinem Kopf die Vorstellung, daß sie alle aus einem Koffer stammten, der eigentlich verborgen unter dem Bett bleiben und nicht aufgemacht werden durfte. So wie Mutters Koffer unter dem Bett, als oben die französischen Soldaten Bajonettwerfen gegen die Türfüllungen übten.

Man durfte den Erzähler nur aus ganz triftigen Gründen – etwa wegen eines falschen Datums oder einer Verwechselung der handelnden Personen – unterbrechen. Dafür sparte man am Ende nicht mit saftigen Kommentaren und geriet nicht selten aneinander wegen gänzlich verschiedener Auffassungen über Recht und Unrecht, Schuld und Sühne. Wenn später in den Literaturseminaren meine Freundinnen mit der Erzählperspektive so ihre Schwierigkeiten hatten, wunderten sie sich mehr als einmal, warum ich keinerlei Mühe hatte herauszufinden, welche Rolle es spielte, wer wem wann und aus welchem Grunde etwas erzählte. Meine Freundinnen waren meist Arzt- oder Apothekerstöchter aus der Stadt. Sie zogen nur vielsagend die Schulter hoch, wenn ich sagte: „Bei uns in Trossingen kann das jeder.“ Natürlich glaubten sie mir kein Wort.

Mit fünfzehn haßte ich diese Geschichten, dieses Wer mit Wem und den ganzen Klatsch. Ich las Dostojewski und Brecht und fand diese Dorfgeschichten uninteressant. Ich wollte auf die Universität, Literatur studieren und lernen wie man schreibt. Merkwürdigerweise wußte ich aber immer schon, daß ich irgendwie auf diese Geschichten zurückkommen mußte. Um manche kam man einfach nicht herum. Daß meine Eltern am Tag des Münchner Abkommens schon ein Jahr vor dem Ausbruch des Krieges Knall auf Fall per Kriegstrauung heiraten mußten ohne Fest und Feier, das war so eine Geschichte, die mich umtrieb und die ich mir immer wieder in allen Einzelheiten ausmalen mußte.

Wenn ich gefragt werde, wie lange ich an meinen alemannischen Geschichten schreibe, bringt mich das in Verlegenheit. Ich trage sie schon immer unfertig, halbfertig, als Kontrast zu „Mutter Courage“ oder „Draußen vor der Tür“ mit mir herum. Mit Schreiben habe ich vor gut zwanzig Jahren angefangen. Jetzt sind es drei Romane geworden, die nächsten beiden Bände sind zur Hälfte fertig. Es sind Geschichten die unterschiedliche Figuren, Zeitläufe und wie man sich in sie verstricken kann, Entfremdungen und die schauerlichen Verwüstungen, die der Krieg in den Beziehungen der Menschen anrichtet, spiegeln.

Ohne Trossingen wäre ich wohl über die Beschreibung der eigenen Midlife-Crisis nicht so recht hinausgekommen und womöglich damit zufrieden gewesen. So aber habe ich, obwohl in der Welt herumgekommen, die Trossinger Stube meines Onkels mit ihren Geschichten nie so recht verlassen und bin auf meinem Weg vom Lokalen zum Universalen immer noch dem Kopfschütteln meiner Großtanten ausgesetzt. Oder, um es in den Worten einer meiner Cousinen zu sagen, die als Managerin jahrelang in aller Herren Länder unterwegs gewesen ist. Befragt, wo es denn für sie, die Kennerin, besonders exotisch gewesen sei, antwortete sie nach einigem Nachdenken:

„Ja, weißt du, wenn du ans Ende der Welt kommst und denkst, da ist es jetzt endlich richtig exotisch – weißt du, wie es dann ist, wenn du eine Weile da bist und die Leute kennenlernst? Dann ist es ganz genau so wie daheim in Trossingen. Kannst du das verstehen?“

Ich kann. Ich kann das verstehen. Und Sie, die Sie hier sitzen, denke ich, Sie können das auch.«

Anne Birk, Trossingen, im Juli 2002

Im Rahmen dieser Jubiläumsveranstaltung stellte die Schriftstellerin in einer Lesung ihren Text ‚Dorfgeschichten‘ vor.

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