Mein Feind (Anthologie-Text)
Buchtitel:
Aus gegebenem Anlass
Autorin:
Anne Birk et al.
Literarische Gattung:
Anthologie
Text von Anne Birk:
Mein Feind
© Copyright ‚Mein Feind‘:
ROGEON Verlag
eBook-Cover:
Kurzübersicht
Über nachstehende Links gelangen Sie direkt zum jeweiligen Seiten-Abschnitt bezüglich ‚Aus gegebenem Anlass‘ von Anne Birk et al. mit dem Anthologie-Beitrag der Autorin ‚Mein Feind‘:
Buch-Vorstellung
»Zehn Jahre Förderkreis Deutscher Schriftsteller: Das ist der Anlaß, der dem Buch den Titel gab. Die Anthologie versammelt unveröffentlichte Texte von Autoren, die der Föderkreis unterstützt und ermutigt hat. Dabei wird bewußt darauf verzichtet, ausschließlich den Arrivierten ein Stelldichein zu geben. Vielmehr soll hier ein breiter Kreis von Autoren vorgestellt und empfohlen werden.
Ein wechselvolles Lesebuch ist dabei entstanden, das aber die Vielfalt und die Lebendigkeit der zeitgenössischen deutschen Literaturszene widerspiegelt.«
(Abdruck des Einbands der Edition Weitbrecht | Thienemanns Verlag)
Und wie Anne Birk 1984 in einer Widmung über ihren eigenen Text-Beitrag schrieb:
„Weil unsere Feinde schon immer hätten unsere Freunde gewesen sein können.“
Erschienene Auflagen & Ausgaben
Auflagen und Ausgaben von ‚Aus gegebenem Anlass‘:
1. Print-Auflage
Thienemanns Verlag | Weitbrecht Edition
Hrsg.: Ekkehart Rudolph
ISBN-13: 978-3-522-70090-2
Erscheinungsjahr: 1983
164 Seiten
Paperback
Vergriffen
Pressestimmen & Rezensionen
Im Folgenden finden Sie einen Abdruck ausgewählter Pressestimmen & Rezensionen zu ‚Aus gegebenem Anlass‘ von Anne Birk et al.:
| in Bearbeitung |
Inhalt des Buches
Inhaltsverzeichnis | Kapitel
Die Anthologie ‚Aus gegebenem Anlass‘ mit der Schriftstellerin Anne Birk beinhaltet folgende Kapitel bzw. Abschnitte:
Ich
- Gedicht (Otto Jägersberg)
- Rampenfieber (Jürgen Lodemann)
- Bemerkungen über den Figurenerfinder (Friederike Roth)
- Werkzeuge der Freiheit (Walter Helmut Fritz)
- Abschied des Troubadours (Eva Vargas)
- Blatt-Wende (Eva Vargas)
- Das Liebesbett des Narziß (Eva Vargas)
- Danke, Cocteau (Irmela Brender)
- Das Ohr am Mund des Kultur-Verbrauchers (Roland Lang)
Jetzt
- Menetekel (Johannes Poethen)
- Schweig im Dritten Weltkrieg – oder stell Dir vor es ist Krieg und alles geht drauf (Manfred Esser)
- Mein Feind (Anne Birk)
- Nicht nur bei Goya (Walter Helmut Fritz)
- karte an karl valentin (Dieter Wieland)
- Ausführung in den Park (Jan Christ)
- Namenlose Heimkehr (Imre Török)
- Allzeit bereit (Peter Renz)
Hier
- Heimat (Michael Spohn)
- Inmitten (Maria Menz)
- Bauraadel (Maria Menz)
- It verdirbt (Maria Menz)
- Am vierta Viertel (Maria Menz)
- Stuttgart, Hofen, Hochsommer (Carmen Kotarski)
- Lindauer Brücke (Ingeborg Sulkowsky)
- Wia ses mechdadd (Peter Schlack)
- Wuad em Bauch (Peter Schlack)
- Miad ben-e miad (Peter Schlack)
- Biberach (Günter Guben)
- dr diinggl (Dieter Wieland)
Wie
- Am Schminktisch der Welt wird unser Leben stimmig gemacht (Günter Guben)
- Aufklärung (Johannes Poethen)
- Erfinden (Johannes Poethen)
- Aus alten Märchen (Irmela Brender)
- Traum (Josef W. Janker)
- Eben geht er draußen vorbei (Walter Helmut Fritz)
- Nägel. Tessin. (Christoph Lippelt)
- Sollbruchstellen: So nicht – Hauswärts – Abteilung Leben – Der Schneider von Ulm (Ulrich Zimmermann)
- Welt so als wenn (Ingeborg Sulkowsky)
- Silbentrennung (Helmut Pfisterer)
Dort
- Samalgundi Bar (Jochen Kelter)
- Central Park South (Jochen Kelter)
- West 8. Straße (Jochen Kelter)
- Orte. Zeiten: Zwischen Stuttgart und Graz. Winter – Licata/Sizilien. Hochsommer – Graz, Januar. Vom Fenster aus (Carmen Kotarski)
- Der Maler (Zsuzsanna Gahse)
- Die Grillen (Hans Schmid)
- Provence, Dreiundzwanzig Jahre später (Margarete Hannsmann)
- Provence II (Margarete Hannsmann)
- Cézannes Atelier in Aix (Margarete Hannsmann)
Wir
- Sonnentau (Klaus Nonnenmann)
- Weil du den Kopf nicht hebst (Ingeborg Sulkowsky)
- Lösegeld (Rainer Wochele)
- Neues aus dem Leben eines Taugenichts (Armin Ayren)
- Mit einem Auge eins im Sinn (Günter Guben)
- Mein Minotaurus (Birgit Heiderich)
- Abfall (Irmela Brender)
- Kleist für Fortgeschrittene – oder Falscher Aufstand der Gefühle (Werner Dürrson)
- Zwischenfall in U. (Regine Kress-Fricke)
‚Mein Feind‘ (ungekürzt)
Nachstehend können Sie den Anthologie-Text ‚Mein Feind‘ der Schriftstellerin Anne Birk in voller Länge hier lesen:
»Mein Feind heißt Piotr Iwanowitsch Kalugin. Er hat noch sechs Wochen Zeit, bis er zum Militär eingezogen wird.
Er kann sich noch nicht vorstellen, wie es ist, wenn er von Nowodrowsk, wo er sein bisheriges Leben verbracht hat, in die Kaserne nach Zerkow muß. Wenn er Pech hat, muß er noch weiter weg nach Kiew und jeder weitere Kilometer von Nowodrowsk weg ist ein Kilometer zu viel, jetzt, wo er Irina endlich für das Theater erwärmt hat. Wenn es schon sein muß, denkt mein Feind, dann doch lieber nach Zerkow. Mehr denkt er vorerst nicht darüber. Er denkt lieber, immerhin noch sechs Wochen, in denen er Zeit hat, Irina, die ihm jede Woche einmal ihre Träume verkauft, vom Theaterspielen zu überzeugen.
Bis jetzt denkt mein Feind hauptsächlich an die Kartenverkäuferin des Revolutionspalastes, mit der er sich immer in lange Gespräche über jugendliche Kosakenoberste oder schneidige Brigadeführer einlassen muß, Gespräche, die viel mehr Zeit in Anspruch nehmen als für einen simplen Kartenverkauf vorgesehen sind, wo die Leute hinter einem immer schon drängeln, weshalb solche Gespräche meist im Café um die Ecke fortgesetzt werden müssen.
Dort sitzen sie dann, während ich sie über den Rand meiner Zeitung beobachte, und er versucht ihr klarzumachen, daß Theaterspielen ganz etwas anderes ist als eine über Breitwand trabende Reiterhorde anzugaffen.
Sie hört ihm mit schön bemalten, skeptisch geschürzten Lippen zu und fragt spitz, warum er dann jede Wochen zum Gaffen käm.
Mein Feind errötet ein wenig, weil er ja nicht geradezu sagen kann, daß er ihretwegen in dieses Kino geht und ich muß mein Grinsen kurz hinter meiner Zeitung verschwinden lassen, damit er mir nicht ansieht, daß ich zuhöre. „Bei Iwan dem Schrecklichen bist du sogar zweimal in den gleichen Film gegangen, da hab ich noch gedacht, Mensch, der war doch erst gestern da, der muß vielleicht bescheuert sein.“
Jetzt lachen sie beide. Irina wirft dabei den Kopf zurück, die makellos schönen gleichmäßigen Zähne sind für einen Augenblick zu sehen.
„Aber das mußte ich mir doch ansehen“, ruft mein Feind, „weil wir das doch spielen, verstehst du, wir spielen Iwan den Schrecklichen, und ich muß mir doch ansehen, wie die das machen, mit viel Hell-Dunkel und Schummerlicht und angstvoller Katzenmusik. Das ist es ja grad. Das macht einen Effekt, verstehst. Aber das geht über den Grusel nicht recht hinaus.“
„Und ihr“, sagt Irina kalt, „ihr geht darüber hinaus.“
Ich hinter meiner Zeitung weiß, sie wird sich nie für das Theater und für meinen Feind erwärmen, sonst würde seine Begeisterung sie zumindest neugierig machen. Mein Feind weiß es aber noch nicht und sagt: „Aber klar, da ist ganz am Anfang, wie der junge Iwan angeekelt ist von den Intrigen der Bojaren die Szene, wie er träumt, er sei Zar. Am Anfang, mußt du wissen, da will er Gerechtigkeit und Rußlands Größe, jedenfalls wenn er redet. Er wird von den Bojaren als Spielball benützt und hin und her geschoben, man sieht, wie er mißbraucht wird und man glaubt an seinen Wunsch nach Gerechtigkeit. Und dann kommt die Traumszene, da sagt er, die Krone Rußlands setz ich mir aufs Haupt und über eure Rücken steig ich auf zum Thron – und dann spielen wir das so, daß er wirklich über die Rücken von Menschen zum Thron steigt, verstehst du, wir stellen das dar.“
„Ja, und?“ fragt Irina mit merklich geringem Interesse und ich muß wieder hinter meiner Zeitung verschwinden für einen Augenblick. Mein Feind ist sprachlos vor Enttäuschung; sei es, weil er sich die Niederlage nicht eingestehen kann oder sei es, weil er weiß, daß die Pritsche in der Kaserne sowieso eine mönchische sein wird, jedenfalls nimmt er nach kurzer Pause einen neuen Anlauf.
„Also, da sieht man doch, daß es nichts werden kann mit der Gerechtigkeit, daß die Macht sich etabliert auf dem Rücken von Unterdrückten – verstehst du?“
Vorsichtshalber spricht er jetzt gleich weiter nach seiner Frage, daß ihn eine entsprechende Antwort nicht wieder draus bringen kann.
„Und der Clou ist, während Iwan sich in seinem Traum die Krone aufsetzt und eigentlich die Rücken der Bojaren meint, lassen wir ihn über die Rücken des Volkes zum Thron gehen – was sagst du dazu?“
„Ja, was soll ich dazu sagen“, antwortet die Verkäuferin billiger Träume schnippisch und mein Feind schnappt förmlich nach Luft, bevor er aus sich herausschreit:
„Aber du mußt doch begreifen, daß diese Szene alles vorwegnimmt, daß klar wird, er träumt von der Macht, er wird sie ergreifen, koste es, was es wolle, er wird über Leichen gehn, und wer darunter zu leiden hat, das ist das Volk.“
Bevor Irina noch etwas anderes Unpassendes sagen kann, fährt er fort: „Schau, in der ersten Besetzung spiele ich den Iwan“-
„Du?“ fragt sie verblüfft und jetzt, wo er endlich anfängt, etwas Eindruck auf sie zu machen, sagt mein Feind dummerweise: „Ja, natürlich, und in der zweiten Besetzung spiele ich einen aus dem Volk. Und das ist eine irre Sache. Das eine Mal gehe ich wirklich in einem steifen Brokatgewand über menschliche Leiber mit einer Pappdeckelkrone auf dem Kopf auf einen Thron zu, was gar nicht so einfach ist, weil es ziemlich schwierig ist, das Gleichgewicht zu behalten und man muß es richtig üben, wenn man dabei nicht hin und her wackeln will wie ein Clown. Das andere Mal fürchtest du dich richtiggehend davor, getreten zu werden, auch wenn du vorher alle Lockerungsübungen gemacht hast, du fürchtest dich davor, ins Kreuz getreten zu werden, es ist ein richtiges körperliches Angstgefühl. Du bist ganz erleichtert, wenn es dich diesmal nicht erwischt hat. Du verstehst plötzlich, warum sie es immer genommen haben wie Blitz und Hagelschlag, ob über sie hinweggetreten worden ist oder nicht, du begreifst an dir selber plötzlich, was es damit auf sich hat, mit dem Ducken.“
Ich bin schon eine ganze Weile hinter meiner Zeitung verschwunden, weil ich es nicht mit ansehen kann, wie mein Feind so weit aus sich herausgehen und so viel von sich hergeben kann, wo ich doch weiß, daß es nicht angenommen wird, daß sie ihn stehen läßt, wie einen nassen Hund, ja, wie einen Hund, der aus dem warmen Wasser springt und jetzt naß und frierend am Ufer steht und ganz vergeblich mit dem Schwanz wedelt.
Ich falte meine Zeitung zusammen, lege ein paar passende Münzen auf den Tisch und gehe auf den Ausgang des Cafés zu.
Mit dem Türgriff in der Hand zögere ich noch einen Augenblick vor der Glastür, in der sich das Café spiegelt. Weit hinten sehe ich meinen Feind noch immer auf den skeptisch gerümpften, nach mehrmaligem Nippen an der Kaffeetasse nicht mehr so schön bemalten Mund einreden.
Die Mutter meines Feindes treffe ich öfters in diesem Café.
Wir sind einmal zufällig an den gleichen Tisch geraten nach dem Einkaufen.
„Gott, ist das eine Schlepperei“, sagte sie und bestellte einen Kaffee, „bis man für so eine vierköpfige Familie alles beisammen hat. Unglaublich, was vier so Leute alles wegessen.“
Ich nicke. Ich sage: „Beim Essen sind sie alle da, beim Heimtragen hilft kein Mensch.“
Jetzt nickt sie. So ist es. Es ist nichts Neues für sie.
„Wenn es wenigstens für eine Weile reichen würde, aber nein, in drei Tagen kann man wieder losziehen und Kohlköpfe und Kartoffeln heimschleppen.“
Ich nicke. So ist es. Es ist nichts Neues für mich.
Seither treffen wir uns manchmal im Café. Einfach so.
Ich erzähle, daß meine Mutter immer schlechter hört und immer öfter eigensinnig behauptet, man habe ihr nichts gesagt von alledem. Kein Wort. Die Mutter meines Feindes nickt vor sich hin. So ist es. Es ist nichts Neues. Sie erzählt, daß ihr Sohn jetzt bald zum Militär kommt und daß das ein Segen ist, weil das mit der Kartenverkäuferin, mit der er sich immer rumtreibt, obwohl sie, seine Mutter, ihm schon hundertmal gesagt hat, daß das nur eine aufgedonnerte Schlampe sei, ein End haben muß, wie jeder vernünftige Mensch sieht, jetzt, wo er einen Studienplatz bekommen hat. Und hat sie vielleicht nicht recht gehabt, als sie gesagt hat, geh auf den Bau, wenn du in einer guten Brigade bist, kannst du es weiter bringen. Da hat sie doch auch recht gehabt, das sah er auch ein, aber jetzt hat er sich diese Schlampe in den Kopf gesetzt und jetzt sieht er gar nichts mehr ein, rein gar nichts mehr.
Ich nicke. Ja, ja, so ist es halt, wenn man einen großen Sohn hat. Als ob das etwas Besonderes wäre.
„Ein Segen ist es, ein wahrer Segen, daß er zum Militär muß, da werden sie ihm solche Flausen schon austreiben“, sagt sie befriedigt.
So sitze ich mit der Mutter meines Feindes manchmal im Café und wir reden über lauter Dinge, die uns nicht neu sind.
Piotr Iwanotisch Kalugin hat noch sechs Wochen Zeit, bis er zum Militär eingezogen wird.
Und wenn auf der einen Seite ein seniler alter Schauspieler, der wahrscheinlich meint, in Kriegen werde nur Ketch-up vergossen, und auf der anderen Seite ein verknöcherter ehemaliger Geheimdienstchef es so wollen, dann wird er mein Feind sein.«
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